Man kann sich schon fragen, ob es eine gemeinsame Kultur und Identität aller Nepali gibt. So vielseitig wie die Geographie des Landes ist, so variantenreich ist die ethnologische Landkarte. Immerhin leben in den Mittel- und Hochgebirgslandschaften des Himalaja und in den Tiefebenen an der indischen Grenze über hundert verschiedene Völker, mit verschiedenen Sprachen, verschiedenen Schriften und sehr unterschiedlichem Aussehen, die von der Geschichte irgendwie zusammen gebracht wurden, die sich aber teilweise noch immer fremd sind.
Ein Sherpa aus der Umgebung des Mount Everest hat mit einem Tharu aus dem subtropischen Tiefland Nepals kulturell weniger gemein, als der Durchschnittsnorweger mit dem Sizilianer. Trotzdem würde ich sagen, dass es kulturelle Gemeinsamkeiten gibt, die typisch sind und für ganz Nepal gelten.
Was wir heute als nepalisch wahrnehmen, ist sehr von den Machtverhältnissen vergangener Jahrhunderte geprägt. Im Kathmandutal hat sich aus dem lokalen Volk der Newari, den Herrschern aus Gorkha und mächtigen indischen Einflüssen eine Kultur entwickelt, die immer weitere Teile des Landes beeinflusste. So wurde der vorherrschende Buddhismus nach und nach zugunsten des Hinduismus zurück gedrängt. Der Kult um Brahma, Shiva und Vischnu war die Religion der königlichen Herrscher Nepals und ist heute noch prägend für Politik und Gesellschaft. Nach offiziellen Zahlen bekennen sich etwa 80 % der Bevölkerung zum Hinduismus. Die buddhistische Philosophie dominiert heute nur noch abgelegenere Regionen des nepalesischen Himalaja. Die gegenseitige Beeinflussung der beiden Weltreligionen ist aber in Nepal überall präsent.
Für viele Reisende erstaunlich ist, dass die Wurzeln der indoarischen Bevölkerung Nepals im gleichen Boden gewachsen sind wie die unsrigen. Grundsätzliche religiöse Vorstellungen wurden vor Jahrtausenden mit den Völkerwanderungen aus dem Osten Europas mitgebracht. Nicht von ungefähr erinnert die Götterwelt der Hindus an das Pantheon der alten Griechen.
Und wo wir schon bei den Vergleichen sind: Sprachlich ist das Nepali enger mit dem Deutschen verwandt als mit dem Tibetischen (das auch innerhalb Nepals gesprochen wird). Vielleicht wirkt Nepal für den Mitteleuropäer deshalb zwar einerseits fremd, gleichzeitig aber auch irgendwie heimisch und vertraut.

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