Tafelberge in Venezuela (Teil 2)
Wandern

Auyan Tepui: Trekking über dem Dschungel. Teil 2 von 2.

Auyan Tepui Trekking, Venezuela

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Der Reisebericht - Teil 2

Das zweite Lager ...

Das heutige Nachtlager schlagen wir unter einer riesigen abgestürzten Felsplatte auf. Diese Stelle nennt sich El Peñon, der Fels. Platz für Zelte bietet der umgebende Dschungel kaum, daher rollen wir unsere Isomatten und Schlafsäcke auf der Sandfläche unter dem Felsvorsprung aus. Das ist wie Schlafen am Strand.

Lager 2, Auyan Tepui, Venezuela

Unsere einheimischen Begleiter schneiden armdicke Pflöcke aus dem Dschungel und verkeilen sie zwischen Sandstrand und Felsdach, um daran ihre Hängematten zu befestigen. Wie schlafende Fledermäuse baumeln sie in der Nacht über unserem Proviantlager.

Zwischen den Wipfeln der Bäume und der Kante unseres Felsdaches hindurch sieht man nur ein kleines Stück des Himmels. Aber dieses Stück verwöhnt uns schon in der klaren Nacht mit einer unglaublichen Menge an Sternen.

Noch eindrucksvoller wird der Tagesanbruch. Die aufgehende Sonne bemalt erste vereinzelte Wolkentürme mit warmen Rot- und Rosatönen. Vor dem blauen Himmel wirken die Silhouetten der Urwaldbäume wie ausgeschnitten und aufgeklebt.

Wenn das kein gutes Zeichen ist! Heute ist der entscheidende Tag! Heute müssen wir die schwierigsten Kletterstellen überwinden, und heute erreichen wir unser Ziel, das Dach des Tafelberges - wenn die Götter uns gewogen sind.

Beim Frühstück macht sich freudige Erwartung breit, gedämpft durch das Wissen um die Strapazen, die uns heute erwarten.

Und der Tag hält, was er verspricht. Schon wenige Meter oberhalb des Nachtlagers muss ich zum ersten Mal das Seil auspacken. Das Wetter ist besser als gestern, aber die Felsen sind noch nass und glitschig. Für versierte Kletterer ist das kein großes Problem, aber in einer so abgelegenen Region ist Sicherheit erstes Gebot.

Auyan Tepui Trekking, Venezuela

Steil geht es bergauf, über Felsen, die aus der Steilwand herabgestürzt sind und sich am Fuß der obersten Stufe aufgetürmt haben. Immer wieder muss das Seil ran. An einigen Stellen hängen sogar noch alte Stricke von anderen Tafelbergbesteigern. Nicht alle wirken besonders Vertrauen erweckend.

Der Aufstieg kostet Zeit. Zwölf Trekker, 18 Indigenas und ich müssen nacheinander sicher über jedes einzelne Hindernis hinwegklettern. Das geht nur, indem Einer dem Anderen hilft.

Langsam nähern wir uns der Basis der letzten Stufe. Direkt am Fuß der Steilwand ist der Boden trocken und sandig. Der Blick nach oben verrät, dass die Wand über hängt, und den Regen abhält. Überall klebt Kot von wilden Tauben, die in den Höhlen der Steilwand trockene und sichere Brutplätze gefunden haben.

Linker Hand öffnet sich ein breiter Spalt zwischen der Felswand und einem vorgelagerten Turm. Der Blick hinein ist großartig. In den Spalt sind von oben Felsbrocken hineingestürzt, teilweise sind sie so groß wie Häuser. Sie bilden eine unregelmäßige Treppe, die wohl eher für Riesen geplant wurde. Wir müssen jede einzelne Stufe mühsam erklimmen, bis wir nach der obersten irgendwann die Hochfläche des Berges betreten werden.

Auyan Tepui Trekking, Venezuela

Kaum sind wir in den Spalt eingestiegen, ändert sich Alles. Die hohen Bäume verschwinden, zwischen den Felsbrocken ragen Palmen, Farne und Bromelien hervor. An allen Seiten steigt der Fels in den Himmel, von dem wir nur noch ein winziges Stück hoch über uns erkennen können. Auf und ab geht es über die Felsbrocken, teilweise auch durch tiefe Höhlen unter ihnen hindurch. Wir kommen uns vor wie Frodo und seine Mitstreiter beim "Herrn der Ringe". Warum hat man den Film eigentlich nicht hier gedreht? Wahrscheinlich ist noch kein Hollywood-Scout in diese Einsamkeit vorgedrungen.

Mittlerweile regnet es wieder. Die erste Schlüsselstelle liegt vor uns. Eine sechs Meter hohe Wand versperrt den Weg. Die einzige Möglichkeit, sie zu überwinden, bietet ein Spalt, der sich von rechts unten nach links oben diagonal durch den glatten Felsen zieht. Der Spalt ist so eng, dass sich ein Mensch gerade so eben hineinzwängen kann - aber nicht mit Rucksack. Durch den schmalen Gang schlängeln wir uns wie Regenwürmer im Boden aufwärts, während die Kameraden oben ziehen und unten schieben. Mühsam arbeitet sich Einer nach dem Anderen hinauf. Das Gepäck wird anschließend am Seil hinterher gezogen.

Das nächste Problem ist ein würfelförmiger Brocken von gut zwei Metern Kantenlänge, der zwischen zwei V-förmig zusammenlaufenden Felswänden klemmt. Es ist nicht ganz leicht, die beiden glatten steilen Wände hinauf zu steigen. Um den Felsblock herum und weiter hinauf geht es wieder nur mit Hilfe der Kollegen und des Seils.

Nach jedem Hindernis, nach jeder konzentrierten Kletterei, nimmt die einzigartige Kulisse die Sinne wieder von Neuem gefangen. Ich habe schon oft gehört, dass sich Menschen in den Bergen winzig vorkommen. Jetzt kann ich das richtig spüren. Wie wir uns hier zwischen den Felsbrocken hindurch zwängen, über sie hinüber krabbeln und unter ihnen durch wühlen, so müssen sich in den heimischen Alpen die Murmeltiere fühlen.

Das letzte große Hindernis taucht auf. Wir steigen in eine Höhle, die sich unter einem Haufen von Felsbrocken gebildet hat. Hier braucht man fast eine Taschenlampe. Den Ausgang erkennen wir erst, als wir direkt drunter stehen: ein Loch in der Höhlendecke, sieben Meter über uns. Glücklicherweise hängt hier schon ein Seil. Ich klettere vorsichtig voraus und prüfe die Festigkeit. Um zum Ausgang zu gelangen, stemme ich mich mit beiden Füßen gegen die Höhlenwand, und hangele mich am Seil hinauf. Eigentlich gar nicht so schwer, wenn man dem Seil vertrauen kann und genug Druck auf die Sohlen bekommt. Ich schlinge oben zur Sicherheit noch einen zweiten Knoten um einen Baumstamm und gebe das Seil frei. Dann taucht die Gruppe, Einer nach dem Anderen, wie eine Reihe von Bergleuten aus dem Inneren der Erde auf.

Noch drei Schritte und wir haben unser Ziel erreicht! Wir stehen wirklich auf dem Tafelberg! Die Türme vor der Steilwand ragen wie riesige Geister aus der Nebelwand heraus. Durch die Risse und Spalten in der zerfurchten Kante scheint der Nebel wie mit großen Fingern nach uns zu greifen. Er missgönnt uns wohl unseren Erfolg und will uns wieder herunterzerren, aber hier oben löst die Sonne alle Schwaden sofort auf.

Auyan Tepui Trekking, Venezuela

Die Landschaft ändert sich abrupt, doch die Atmosphäre bleibt märchenhaft unwirklich. Wir stehen auf einer Fläche, die vor über einer Milliarde Jahren Meeresboden war. Und wie auf dem Meeresboden sieht es hier an vielen Stellen immer noch aus. Weite Gebiete sind eben, mit flachen Mulden besetzt, in denen Wasser steht. Das Spiegelbild des Himmels in diesen Pfützen wirkt blauer, als der Himmel selbst. Die Pflanzen sind in Formen und Farben so fremdartig, dass sie von einem anderen Planeten stammen könnten. In Wirklichkeit haben sie sich seit Millionen von Jahren an die besondere Situation auf dem Tafelberg angepasst. Die steilen Wände rundherum haben sie von der typischen Flora des Tropenwaldes abgeschnitten, so dass sie sich ungehindert zu ihren heutigen Formen entwickelten.

Viele Vertreter der Pflanzenwelt hier oben sind Carnivoren, Fleischfresser. Die felsige Hochfläche ohne richtigen Boden bietet wenig Nährstoffe. Diese werden daher in Form von Tieren aufgenommen. Viele Blüten bilden lange Trichter, an deren Grund eine klebrige Masse mit betörendem Duft Insekten anlockt. Einmal mit der Substanz in Berührung gekommen, verklebt sich das Opfer immer weiter, versinkt und wird langsam verdaut.

Wir begnügen uns derweil mit Brot und Käse. Alle sind glücklich, heil oben zu sein. Niemand hat jemals vorher etwas Ähnliches gesehen. Die größten Schwierigkeiten liegen hinter uns, und zur Feier des Tages gibt's für jeden eine Dose Bier.

Und noch etwas ändert sich: das Wetter. In den nächsten Tagen scheint die Sonne.

Auyan Tepui Trekking, Venezuela

Der Platz, an dem wir übernachten heißt El Oso, der Bär, nach einem verwitterten Sandsteinbrocken, der mit seinen abgerundeten Formen aussieht wie ein Gummibärchen. Auch hier schlafen wir wieder unter einer Felsplatte auf Sandstrand. Passend dazu kreist die Flasche mit dem Rotwein. Die Strapazen der letzten Tage sind vergessen.

Einen Tag bleiben wir auf dem Tafelberg und gönnen uns vor dem Abstieg etwas Entspannung. Wir spazieren auf der Hochfläche herum wie auf einem fremden Stern. Die Fläche ist von tiefen Rissen wie von Gletscherspalten zerfurcht, und an vielen Stellen liegen große Felsblöcke oben drauf. Ganz ohne Klettern kommen wir auch hier nicht weit.

Auf dem Tepui gibt es mehrere Flüsse. Einer von ihnen speist den höchsten Wasserfall der Erde. Etwa ein Kilometer freier Fall liegt hinter einem Wassertropfen, bevor er am Fuß des Salto Angel in eine Gumpe plumpst. Tausend Höhenmeter weiter oben genießen wir das warme Wasser zum Baden, und um unsere verdreckte Kleidung wieder auf Vordermann zu bringen.

Schneller als erwartet kommt die Zeit, Abschied vom Auyan Tepui zu nehmen. Der Rückweg verläuft bei gutem Wetter mehr oder weniger reibungslos. Wir erreichen nach insgesamt sechs Trekkingtagen wieder Uruyén. Enrique begrüßt uns wie alte Bekannte.

Die letzten Tage haben uns zusammengeschweißt. Das befriedigende Gefühl, gemeinsam etwas Großartiges geschafft zu haben, prägt den Abend, aber der Abschied von unseren Trägern fällt sehr schwer. Wir haben Freunde gewonnen, die die meisten von uns nie wieder sehen werden.

Für unsere Trekkinggruppe ist die Reise noch nicht zu Ende. Die Cessnas holen uns am nächsten Morgen ab. Wir fliegen um den Auyan Tepui herum nach Canaima, einer traumhaften Lagune mitten im Urwald. In den folgenden Tagen unternehmen wir eine Tour mit Einbäumen auf Dschungelflüssen. Wir wollen den Fuß des Salto Angel von der anderen Seite erreichen, aber das ist eine andere Geschichte ...

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