Die Lebensform des Nomadismus wurde erst durch die Einwanderung der Türken nach Anatolien gebracht. Eis hatte hier zwar schon vorher die Weidewirtschaft und auch die Fernweidewirtschaft gegeben, aber es wanderten wohl nur Hirten mit den Herden, nie ganze Bevölkerungsgruppen.
Die nomadische Weidewirtschaft hatte in Zentralasien, dem Herkunftsgebiet der Türkenstämme, eine alte und verbreitete Tradition. Der Nomadismus hat sich dort aufgrund der naturgeographischen Gegebenheiten entwickelt. Nutzbare Weidegebiete befanden sich weit von einander entfernt, zum Teil in verschiedenen klimatischen Zonen und Höhenstufen, und machten eine ständige Wanderung erforderlich.
In Anatolien jedoch ist die Weidewirtschaft, zumindest mit Kleinvieh, so gut wie überall möglich. Hier wurden die Menschen also nicht von der Natur gezwungen, den Nomadismus zu entwickeln. Der aus Turkestan eingeführte Nomadismus fand aber hier ausgezeichnete Entfaltungsmöglichkeiten. Auf begrenztem Gebiet konnten die Nomaden hier mehr Vieh halten. Die Gruppen wurden damit größer und mächtiger.
Die Einwanderung nomadischer Stämme nach Anatolien fand vom 11. bis zum 14. Jahrhundert statt. In mehreren Wellen sickerten sie, vor den Mongolen zurückweichend, in die heutige Türkei ein.
Die Nomaden waren in Stämmen und Teilstämmen organisiert. Bei den türkischen Stämmen spielte jedoch weniger die stammliche Genealogie die entscheidende Rolle, wie etwa bei den arabischen Nomadenstämmen, sondern das Zusammengehörigkeitsgefühl und die faktische Gemeinschaft.
Die einzelnen Stämme und Untergruppierungen sind also im Laufe der Zeit in ihrer Zusammensetzung sehr mobil gewesen. Aufsplitterung und Neubildung waren keine Seltenheit.
Der Zusammenschluss in Stämmen ist aus einer Notwendigkeit bedingt. Bei den Wanderungen der Nomaden kommt es oft zu Konflikten um Weidegebiete anderer Nomaden oder Konflikten mit bäuerlich sesshafter Bevölkerung. Zum Schutz ihrer Herden und zur Durchsetzung ihrer Wirtschaftsinteressen ist für die Nomaden eine wehrfähige Gruppe einer bestimmten Mindestgröße Voraussetzung.
Die Wehrhaftigkeit und Mobilität nomadischer Gruppen erleichtert ihnen die Verlegung ihrer Weidegebiete und die Okkupation völlig neuer Gebiete. So sind sie von zentralen Regierungen nur sehr schwer zu kontrollieren.
Hochlandnomaden
Die byzantinischen Küstengebiete waren anfangs den eingewanderten Turkstämmen noch nicht zugänglich. Vielleicht waren sie auch aus klimatischen Gründen nicht an ihnen interessiert. An die kalten Winter Inneranatoliens waren die zentralasiatischen Völker gewöhnt. Sie entwickelten ein System des Hochlandnomadismus, das höchstens die Innenseiten der anatolischen Randgebirge mit einbezog. Geschützte Becken und Täler wurden zur Winterweide mit dem Winterlager, der "Kisla", und die Hochebenen und Gebirgsbereiche wurden zur "Yayla", der Sommerweide.
Wahrscheinlich haben sich in diesem Hochlandnomadismus schon früh Tendenzen zur halbnomadischen Lebensweise gezeigt. Die neu eroberten Gebiete lagen schließlich alle im Bereich ehemaligen oder potentiellen Feldbaus, der von den Nomaden schnell zusätzlich aufgenommen wurde. Außerdem war das schwere Filzzelt der trockenen innerasiatischen Steppen im Winterregengebiet Anatoliens ungeeignet. Das Klima gab den Impuls zum Bau Fester Häuser.
So entwickelte sich ein halbnomadisches Siedlungs- und Wirtschaftssystem mit den Kislas, die zu stationären Winterweiden mit festen Siedlungen wurden, und mit den Sommeryaylas, auf denen der ganze Stamm erst weiter in Zelten, später auch in Hütten lebte (siehe Abschnitt Yayla-Bauern).
Bergnomaden
Bei weiterem Vordringen erreichten die Türkischen Stämme im 13. und 14. Jahrhundert die Küsten der Ägäis und des Mittelmeeres. Die Küstengebiete stellten eine ideale Winterweide dar, waren aber wegen ihrer Sommerhitze und Malariagefahr als Dauersiedlungsstandorte für die Turkvölker uninteressant. Hier entwickelte sich im Gegensatz zum (oben beschriebenen) Hochlandnomadismus die Form des Bergnomadismus.
Der Bergnomadismus Anatoliens erhielt sich bis in unser Jahrhundert hinein. Die politische Unsicherheit in der Geschichte des Osmanischen Reiches förderte ein Beharren auf die mobile Gesellschaftsorganisation, in der man sich in Krisenzeiten mit all seinen Habseligkeiten ins Gebirge zurückziehen konnte.
Trotz aller gesellschaftlichen und räumlichen Mobilität sind die Wanderrouten über die Jahrhunderte konstant geblieben. Die Nomaden benutzten immer die gleichen Pässe, Brücken und Furten. Diese Routen beeinflussen heute noch das Siedlungsmuster und die Neuansiedlungen zwischen Küste und Gebirge.
Während in westlichen und mittleren Taurus die nomadische Wirtschaftsform durch die Turkvölker eingeführt wurde, gab es im östlichen Taurus schon vorher Gebiete mit nomadischer Tradition. Kurdische Stämme haben schon früh die Bergweiden im Sommer genutzt, um sich im Winter in das Gebirgsvorland zurückzuziehen. Einige Faktoren, so z. B. die Nutzung des Rindes als Reit- und Tragtier, sprechen aber dafür, dass dieser ältere Nomadismus nicht die militante Mobilität der Reiterkriegervölker Zentralasiens besaß.
Im östlichen Taurus war auch die bäuerliche Konkurrenz größer als in anderen Gebirgsteilen. Auch auf dem Höhepunkt der Macht der Nomaden waren ihnen im Osttaurus die Bauern noch zahlenmäßig überlegen.
Auch die Querung der anatolischen Randgebirge durch Nomaden gab es bis im unser Jahrhundert hinein. Die hohen Vulkanberge, die nördlich der Taurusketten gelegen sind, wurden von Stämmen als Sommerweide genutzt, die an der Mittelmeerküste überwinterten. Bis zu Einsetzen des KFZ-Verkehrs hatten diese Gruppen eine zusätzliche Einnahmequelle durch den Überlandtransportverkehr über die Pässe des Taurus.
Im türkischen Schwarzmeergebiet hat sich der Nomadismus nicht sehr stark entwickeln können. Das Klima war feucht, die Bewaldung ließ nicht sehr viel Platz für Weideflächen, reizte aber andererseits zum Bau fester Häuser. Die Möglichkeit der bäuerlichen Lebensweise war hier immer gegeben. Die hier einwandernden Nomadenstämme ließen sich sehr schnell nieder und trieben höchstens noch im Sommer ihr Vieh auf nahe gelegene Bergweiden, auch Transhumans durch Lohnhirten war hier verbreitet.
Die Lebens- und Wirtschaftseinheit bei den Bergnomaden ist nicht der Stamm, sondern der Teilstamm, die Gruppe von Familien oder die Großfamilie, die zusammen wanderte und zeltete. Um die selbständige Verteidigung zu gewährleisten, durfte die Gruppe nicht zu klein sein. Andererseits findet sich vor allem im Gebirge selten ein größeres zusammenhängendes Weidegebiet, das die Herden eines ganzen Stammes ernähren kann. Die Gruppen umfassten deshalb meist 20 - 100 Einzelfamilien.
Der Häuptling der Gruppe, der Aga, war ein älterer Mann aus einer angesehenen Familie. Der Stammeshäuptling, der Bey oder Khan, war schon eher mit einer politischen Instanz zu vergleichen. Er tritt im Fall kriegerischer Auseinandersetzungen und bei Konflikten zwischen Teilstämmen in Funktion.
Lange Tradition hatte bei den Nomaden die Kleinviehzucht, vor allem mit Schafen. In Waldgebieten kamen meist Ziegen hinzu. Die Pferde waren eine Voraussetzung für die hohe Mobilität und Wehrhaftigkeit der Stämme. Das anatolische Kamel, eine Kreuzung aus dem baktrischem Kamel und dem Dromedar, war ein ideales Transportmittel im Hochland und im Gebirge.
Die Turkmenen- und Yürükenstämme des südlichen Taurusvorlandes stellten sich mit ihrer Behausung auf das gegenüber der zentralasiatischen Steppe feuchtere und mildere Klima ein. Das schwere runde Filzzelt wurde nach dem Vorbild der Araber und Kurden durch das schwarze Ziegenhaarzelt ersetzt. Dieser Zelttyp ist luftiger und leichter transportabel. Das ungewaschen versponnene und zu Bahnen gewebte Ziegenhaar ist außerdem wasserabweisend. In Ostanatolien finden wir ein nach einer Seite offenes Zelt mit drei Wänden aus Steinmauern oder Rohrmatten, die westanatolischen Yürüken benutzen Hauszelte, bei denen auch die Seitenwände aus Zeltbahnen bestehen.
Während der Winterweide haben die Bergnomaden oft zusätzlich Feldbau betrieben, z. B. Gerste, Weizen und Baumwolle angebaut. Im Fall einer Notlage, z. B. bei Herdenverlust, konnte also immer auch (vorübergehend) agrarischer Anbau betrieben werden. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war aber die Macht der Nomaden so groß, dass sich im Kisla-Gebiet keine bäuerlichen Siedlungen halten konnten. Später brachte die bäuerliche Flächenkonkurrenz den Zwang mit sich, die Herden zerstreuter weiden zu lassen.
Im Frühjahr wurde die Habe der Familie und ein Getreidevorrat auf 3-6 Kamele geladen, und die Wanderung in die Berge begann. Da mehrere Teilstämme gleichzeitig die selben Routen benutzten,musste der Weidegang unterwegs von den Stammesführern geregelt werden. Konflikte mit anderen nomadischen Gruppen und, in jüngerer Zeit, mit bäuerlicher Bevölkerung waren auf diesen Wanderungen an der Tagesordnung. Diese Konflikte mit den Bauern gingen bis zum beginnenden 20. Jahrhundert in der Regel zu Gunsten der Nomaden aus. So konnten sich an den Wanderrouten kaum Bauern halten. Ihre Siedlungen finden wir nur in unzugänglichen Gebieten zwischen den Durchzugswegen der Nomaden. Die Kislagebiete blieben jetzt bis zum Spätherbst, von einigen kleinen Städten abgesehen, fast menschenleer.
Oft wurde vor Erreichen der Sommerweiden noch eine kurze Frühjahrsweide unterhalb der Baumgrenze eingelegt, wenn die höheren Lagen noch verschneit waren.
Die Yayla-Zeit ist die wichtigste Wirtschaftsperiode. Den Sommer über werden die Vorräte an Käse, Trockenmilch und Butterschmalz produziert und das Jungvieh aufgezogen. Einzelne Händler erscheinen zu bestimmten Terminen mit Tragtieren auf den Yaylas und geben so die Absatzmöglichkeit für die Produkte der Bergnomaden, auch für Lebend-Vieh.
Ansiedlung der Nomaden
Wie oben bereits erwähnt hat es Gründe für eine Ansiedlung der Nomaden im potentiellen Feldbaugebiet Anatoliens schon immer gegeben. Neben freiwilligen Niederlassungen aus wirtschaftlichen Gründen gab es auch mehrfach Versuche der osmanischen Regierungen zur Ansiedlung der Nomaden. Aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts war die militärische Macht des osmanischen Staates groß genug, die Souveränität der Nomadenstämme zu brechen, nicht zuletzt wegen der technischen Entwicklung im militärischen Bereich. Durch die gewaltsame Befriedung der Nomaden konnte sich nun die bäuerliche Bevölkerung ungefährdet über die ehemaligen nomadischen Gebiete ausbreiten, und auch Nomaden nahmen vielfach eine halbnomadische oder bäuerliche Wirtschaftsform an.
Die innenpolitische Stabilisierung und Zentralisierung der Machtverhältnisse kompensierte die Vorteile einer nomadischen Lebensweise im potentiellen Feldbaugebiet und förderte so das Sesshaftwerden der nomadischen Stämme.
Wir können auch heute noch nomadische Züge in der Siedlungs- und Agrarstruktur vieler Dörfer erkennen. Diese Dörfer sind oft, im Gegensatz zu Dörfern bäuerlicher Tradition, locker und als
Streusiedlung angelegt. Baum- und Gartenkulturen haben eine geringere Bedeutung und Ackerterrassen finden wir nur selten in Dörfern angesiedelter Nomaden. Auch die Hausformen sind einfacher und weniger aufwändig im Bau. Vor allem die oft als halbnomadisch bezeichnete Wirtschaftsform des Yaylabauerntums, die nicht nur eine vorübergehende Erscheinung, sondern eine stabile Zwischenform in Anpassung an die natürlichen Gegebenheiten darstellt, ist aus der nomadischen Tradition hervorgegangen (s. u.).
Viele der heutigen Probleme resultieren aus der nomadischen Vergangenheit, z. B. die Besitzverhältnisse. Bei den Grundbucheintragungen nahmen die Stammeschefs das Land für ihren Stamm in Besitz. Die Nachkommen dieser Chefs wurden mit der Zeit zu Großgrundbesitzern, während die einfachen Mitglieder des Stammes zu Pächtern und Lohnarbeitern degradierten. Besonders die erst spät sesshaft gewordene Bevölkerung Ostanatoliens ist von diesem Problem betroffen. Weiter westlich waren die Stämme schon früher zersplittert und die soziale Macht der Stammesfürsten gebrochen. Hier spielten allenfalls die Sippen-Agas noch eine entscheidende Rolle und der Individualbesitz der Familie war vorherrschend.
Die zuletzt angesiedelten Nomaden mussten mit den schlechteren Standorten Vorlieb nehmen, z. B. die äußeren, schlecht entwässerten Teile der Schwemmlandebenen oder dem früheren Sommerweidegebiet. Viele siedelten sich deshalb auch verstreut in Dörfern entfernter Verwandter an oder versuchten in der Stadt eine Arbeit zu finden.
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